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Geritzt

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Keine Ehe – keine Kinder. Dabei stammte Hedwig Bollhagen aus einer Zeit, in der Frauen gefälligst hinter ihrem Mann zu stehen hatten. 1907 in die Obhut einer Arztfamilie geboren rutschte sie aber auch in eine Welt, in der das Korsett aus Kaisertagen so langsam in Frage gestellt wurde. In Darmstadt entwickelte sich der Werkbund. In Weimar schuf Walter Gropius seine Leitlinien für das Bauhaus. Und trotzdem. Es war schon erstaunlich, als Hedwig Bollhagen im Alter von nur 27 Jahren ihre eigene Fabrik eröffnete – die HB Werkstätten für Keramik. 

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Produziert wird seither in einem alten Backsteingebäude, in dem sich die Historie bis in das Dachgeschoss ausbreitet. Dort nämlich, zwischen den Dachbalken des zweistöckigen Hauses, lagern Schätze, die kaum je einer zu sehen bekommen hat. Probearbeiten, Musterstücke und kleinere Serien, die nie oder nur für kurze Zeit in die Ausführung gelangten. Auf ein Potpourri von mehr als 1.000 Formen und Dekoren schätzen die neuen Inhaber diesen Fundus. Denn das ist auch ein Teil des Hedwig-Bollhagen-Legende. Keine Ehe – keine Kinder – keine Erben. 

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Als die große Dame der Keramik im Sommer 2001 starb, fiel die Manufaktur zunächst in ein Durcheinander. Chefs kamen und gingen. Aber was fehlte, war ein Geist. Den hatte Hedwig Bollhagen gut 65 Jahre lang durch die Gänge wehen lassen. Sie war eisern, extrem diszipliniert und zu keiner Zeit davon abzuhalten, radikale Formen in die Welt zu setzen. Nicht durch die Nazis, nicht durch das DDR-Regime und schon gar nicht durch das Alter. Selbst mit 90 sah man sie noch jeden Morgen in Marwitz das Fabriktor aufschließen. Immer pünktlich um 6:00 Uhr. 

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Überhaupt, der Nationalsozialismus. Die Fabrik in Brandenburg, etwa 40 Autominuten von Berlin entfernt, hatte man ihr 1934 angedient, nachdem die jüdische Keramikerin und große Bauhausschülerin Margarete Heymann-Loebenstein zu einem Notverkauf gezwungen war. Bis heute wirft dies Fragen auf, obschon ›Hete‹, die aus Hannover stammte, immer nur in ihren »Pötten«, nicht aber in politischen Voraussetzungen dachte. Im Gegenteil sogar. Ab den späten 30er Jahren gab sie Künstlern eine Heimat und ein Auskommen, die sich verfolgt sahen. Charles Crodel zum Beispiel, dessen Werk im Bildersturm (1933–36) fast vollständig zerstört wurde. 

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Nach dem Krieg führte HB ihren Betrieb alleine weiter. Im Rest des Landes schlossen sich die Grenzen, aber die Frau mit der strengen Knoten-Frisur blieb. Sie wurde DDR-Bürgerin. Wie immer eigentlich: ihre Arbeit, ihre kleine Fabrik und ihre Mitarbeiter waren wichtiger als alles andere. Etwa um 1945 entwickelte Bollhagen das blau-weiße Dekor, für das sie rund um den Globus berühmt wurde. Nur in Miniauflage entstanden hingegen Objekte der Serie ›Ritz‹. Ihre Herstellung ist einfach so kompliziert, dass sich größere Mengen von selbst erübrigten. Entwürfe wie das Dekor 992 (Bildmitte links) gingen als geschätzte Unikate unter dem Ladentisch weg. 

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Und so greifen Vergangenheit und Gegenwart dann jetzt auch ineinander. Denn als die neuen Inhaber – Alexander Grella und Lars Dittrich – den Betrieb übernahmen, gingen die Augen sofort zu den geritzten Stücken. Schwarzes Gold. Beide traten 2013 an, nicht unbedingt aus nostalgischen Gründen oder weil sie aus der Nachbarschaft stammen. Es sind gestandene Unternehmer, die aus der ›Legende HB‹ eine handfeste Geschichte machen wollen. Und so wurde viel Kraft in eine behutsame Modernisierung investiert. Rund 25 Handwerker, denen Bollhagen ihr Wissen zum Teil noch selbst vermittelte, führen heute die Originale-Vorlagen der Meisterin aus. Manchmal kann das 60 Arbeitsschritte pro Werkstück bedeuten. Eine Umsetzung der Serie ›Ritz‹ blieb trotzdem lange Zeit außen vor. Zu teuer. Zu fragil. Kaum serientauglich. 

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Erst um 2015 gelang es, das schier Unmögliche möglich zu machen. Bei allen Artikeln dieser Kollektion wird der Rohling mit einer dünnen, schwarzen Tonmineralmasse eingestrichen. Ist diese getrocknet, muss man mit feinen Werkzeugen in die Oberfläche das Dekor einritzen. So entstehen Muster, die nicht nur sichtbar, sondern später auch spürbar sind. Sagenhafte 50% der Produktion können zwischen dem 1. und 2. Brand oder in der Nachbearbeitung in den Ausschuss wandern. Die von Bollhagen entwickelte Ritz-Technik gilt deshalb auch als »Königsdisziplin«.

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1997 erhielt Hedwig Bollhagen den Bundesverdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Acht Jahre später (und somit leider postum) wurde ihr Nachlass zum nationalen Kulturgut erklärt. HB hätte bei so viel Rummel aber ohnehin abgewunken. So wie sie für ihre Keramik immer nur sparsame Mittel einsetzte, ließ sie das Gleiche auch für sich selbst gelten. Ihre Suche galt der Gebrauchsform, bei der das Handwerk nicht vortäuscht, sondern eine Berechtigung ausübt. Unter ihr wurde gemalt, getupft, weggelassen oder geritzt. In streng grafischer Gestalt. Immer in einer Verbindung aus Steingut mit den Grundwerten des Bauhauses. Aber Kunst? Sie selbst blieb gelassen: »Ach ja, mache nennen das so. Ich mache Teller, Tassen und Kannen.«

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